5 Mechanismen der zentralen Sensibilisierung
1. Wind-up
Wind-up ist eine progressive Zunahme der Größe von C-faser-evozierten Reaktionen der spinalen Hinterhornneurone, die durch niederfrequente, repetitive Stimulation erzeugt werden. Räumlich ist es homosynaptisch, tritt nur an der aktiven Synapse auf, ist von kurzer Dauer und zeigt einen Rückgang innerhalb von etwa neunzig Sekunden nach Beendigung des hervorrufenden Reizes. Die Aktivierung dieser Fasern löst in Hinterhorn-Projektionsneuronen langsame synaptische Potentiale von mehreren hundert Millisekunden aus. Das Wind-up ergibt sich aus der Summation dieser langsamen synaptischen Potenziale bei relativ niedrigen a?erenten Input-Frequenzen. Dies führt zu einer kumulativen Depolarisierung, die zur Beseitigung der spannungsabhängigen Mg2+ Kanalblockade in NMDA-Rezeptoren führt. Durch die Erhöhung der Glutamat-Empfindlichkeit steigert sich dadurch nach und nach die Antwort des Aktionspotenzials auf jeden eintreffenden Reiz in einer Reihung. Dadurch entsteht ein Schmerzerlebnis, das in keinem Verhältnis zum erlebten Reiz steht, z.B. führt eine leichte Berührung der Haut zu Schmerzen. (Thacker & Moseley 2017)
2. LTP
LTP ( Ji & Woolf 2001; Ji et al. 2003; Sandkühler 2000, 2007, 2009; Scholz & Woolf 2007; Woolf 1996; Woolf & Salter 2000) ist eine lang anhaltende Verstärkung der Reaktion einer postsynaptischen Nervenzelle auf eine Stimulation über die Synapse hinweg, die bei wiederholter Stimulation auftritt. LTP ist eine Form der langfristigen synaptischen Plastizität, die über einen längeren Zeitraum anhält (Dutzende von Minuten bis Stunden in vitro und Stunden bis Tage und Monate oder sogar Jahre in vivo). Zwei verschiedene Phasen von LTP werden beschrieben: Früh- und Spätphasen-LTP. Früh- Phasen LTP ist unabhängig von der de novo (neuartigen) Proteinsynthese, d.h. sie bezieht bestehende Neurotransmitter und Rezeptoren mit ein und dauert zwei bis drei Stunden. LTP in der Spätphase beinhaltet die Proteinsynthese und dauert länger als drei Stunden, bis zur Lebensdauer eines Tieres/Menschen, und kann von strukturellen Veränderungen an Synapsen begleitet sein und eine erhöhte Anzahl neuer Neurotransmitter und Rezeptoren beinhalten. LTP ist, wie Wind-up, räumlich homosynaptisch, betrifft also nur solche Synapsen, bei denen die Aktivität direkt stattgefunden hat. Beide Phasen der LTP beinhalten eine Vielzahl von Transmittern und Rezeptoren. Zusammen ermöglichen diese Transmitter-Rezeptor-Interaktionen es, dass mehr positiv geladene Ionen in die Zelle gelangen, die wiederum intrazelluläre Signalmechanismen aktivieren, so dass die Reizschwelle der Hinterhornneurone reduziert wird. Über Second-Messenger-Moleküle erhöht sich so die Anzahl von Rezeptoren, die in die Membrane der nozizeptiven Neuronen eingebettet sind, was bedeutet, dass eingehende Reize gesteigerte Effekte auslösen und so eine Verstärkung in nozizeptiven Pfaden auftritt. Es ist wichtig zu beachten, dass diese Veränderungen nicht auf das Rückenmark beschränkt sind. Auch im Thalamus, ACC, Inselkortex und Amygdala wird eine schmerzassoziierte LTP beschrieben.
3. Klassische Zentrale Sensibilisierung (CCS)
CCS (siehe Ji und Woolf 2001; Ji et al. 2003; Sandkühler 2000, 2007, 2009; Scholz und Woolf 2007; Woolf 1996; Woolf und Salter 2000) bezieht sich auf eine verlängerte synaptische Plastizität nach einem nozizeptiven Reiz. Die Aktivität in Nozizeptoren, die entweder experimentell oder klinisch verursacht wird, ruft eine Periode der fazilitierten Übertragung in Hinterhornneuronen hervor, das Hinterhorn befindet sich hierbei in einem ladungsähnlichen Zustand, so dass Input leichter eine Reaktion hervorrufen kann. Dies verstärkt die Reaktion auf den konditionierten Nozizeptorenweg (homosynaptische Potenzierung, wie bei Wind-up oder LTP) und rekrutiert neue Inputs von nicht stimulierten Afferenzen (heterosynaptische Potenzierung). CCS ist im Gegensatz zu Wind-up und LTP nicht auf die Synapsen beschränkt, die die neurochemische Reaktion ausgelöst haben, sondern verändert sowohl lokale als auch entfernte Rezeptorkomplexe und sorgt dafür, dass sie mit höherer Wahrscheinlichkeit aktiviert werden. Dies hat mehrere wichtige Effekte, z.B. das “Aufwecken” von normalerweise “stillen” Synapsen, um funktionale Synapsen zu bilden, die das rezeptive Feld des postsynaptischen Neurons vergrößern.
4. Spät einsetzende, transkriptionsabhängige Zentrale Sensibilisierung
Sie ist einfach ausgedrückt das Ergebnis der Wirkung von tertiären Botenstoffen, die die Expression von Aminosäuren und funktionellen Proteinen verändern, die durch Neuronen synthetisiert werden und überschneidet sich stark mit der CCS, so dass diese beiden Mechanismen wahrscheinlich koexistieren (s. Costigan & Woolf 2002; Ji und Woolf 2001; Woolf und Costigan 1999; vonHehn et al. 2012).
Viele sehen diese vier Mechanismen als ein Kontinuum, das mit dem Wind-up beginnt und in der CCS endet, aber das ist etwas zu stark vereinfacht, da die erforderlichen Stimulationsparameter für jeden Mechanismus in Bezug auf die Entladungsfrequenz von Nozizeptoren unterschiedlich sind; LTP, z.B., ist abhängig von Nozizeptoren, die mit hoher Frequenz feuern, während CCS davon abhängt, dass dieselben Fasern mit einer niederen Frequenz arbeiten. Es ist jedoch durchaus möglich, dass diese vier Prozesse bei ein und derselben Person zusammen zu beobachten sind. Sie treten auf verschiedenen Ebenen der Neuraxis nicht nur miteinander auf, sondern auch zusammen mit andern Ausprägungen der Zentralen Sensibilisierung , wie z.B. der Neuroimmun-Interaktion.
5. Neuroimmun-Interaktion
Anhaltende Schmerzen im Zusammenhang mit der Verletzung von Neuronen wurden in der Vergangenheit fast ausschließlich auf verletzungsinduzierte Reaktionen innerhalb der Neuronen selbst zurückgeführt. Mit der Zeit entstand aber ein komplexeres Bild, als Prozesse aufgedeckt wurden, die die phänotypischen Veränderungen von Zellen betreffen, die normalerweise mit dem Immunsystem in Zusammenhang stehen, wie Makrophagen, Mikroglia und andere Gliazellen (Beggs and Salter 2013; Clark and Malcangio 2012, 2014; Clark et al. 2013; Old 2013; Old et al. 2015; Thacker et al. 2009; Salter and Beggs 2014; Scholz and Woolf 2007; Tsuda et al. 2013). Diese Prozesse sind nun als nozizeptiv bestätigt, die in der Lage sind, direkt auf Hinterhornneurone einzuwirken, um einen kontinuierlichen a?erenten Input auf das somatosensorische Nervensystem zu produzieren und sind hierbei abhängig von Wechselwirkungen zwischen neuronalen und glialen Zellen, die durch molekulare Produkte, wie Neurotransmitter, Zytokine und Chemokine aktiviert werden. Viele Arbeiten konzentrieren sich hier auf das Hinterhorn, wo Mikroglia und Astrozyten funktionelle Synapsen mit den prä- und postsynaptischen Neuronen in Strukturen bilden, die als “dreigeteilte” und “vierteilige” Synapsen bekannt sind (Papa et al. 2014).